Positionspapier der Poliklinik Veddel zum Tag der Pflege:
Etablierung des Community Health Nursing in der Primärversorgung
Pflege ist das Herz und die Zukunft einer modernen Primärversorgung
Community Health Nursing – ein zukunftsweisendes Konzept, was nicht alle begrüßen
Als Community Health Nursing (CHN) wird eine Rollenerweiterung in der Pflegewissenschaft bezeichnet, die Gesundheitsfürsorge und Versorgung in der ‚community‘ bereitstellt. Es zielt darauf ab, Versorgungslücken zu schließen und dabei Pflegende mit erweiterten Kompetenzen und neuen Handlungsfeldern auszustatten. In Zeiten, in denen aufgrund des demografischen Wandels und eines regionalen Pflege- und Ärzt*innenmangels, einkommensschwache ländliche und städtische Gebiete zunehmend medizinisch unterversorgt sind, entsteht mit dem Konzept CHN ein neuer Versorgungsansatz, der sich einerseits an den individuellen Bedarfen der Patient*innen orientiert, andererseits auch gesellschaftliche Verhältnisse als Einflussfaktoren auf Gesundheit und Krankheit mit in die Versorgung einbezieht. Vor allem für Menschen mit chronischen und komplexen Krankheiten und für ältere Menschen mit Unterstützungsbedarf bietet CHN einen zukunftsfähigen Versorgungsansatz. CHN steht somit für einen Paradigmenwechsel in der ambulanten Gesundheitsversorgung. Weg von einem ärzt*innenzentrierten, rein kurativen Versorgungssystem. Hin zu einer interprofessionellen, teambasierten Verbindung von Gesundheitsförderung und Versorgung.
Während international das Konzept CHN bereits erfolgreich umgesetzt wird, verläuft die Implementierung in Deutschland schleppend.
Der aktuelle Koalitionsvertrag der Bundesregierung beinhaltet zwar erstmalig die Empfehlung für die Implementierung von CHN in Deutschland, was zu begrüßen ist. Langfristig müssen allerdings gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit CHNs eigenverantwortlich und rechtssicher agieren können. Für die Übernahme heilkundlicher Tätigkeiten bräuchte es eine radikale Gesetzesänderung, für die aktuell keine starke Initiative in Sicht scheint. Obwohl mit dem Rechtsgutachten von Burgi und Igl seit 2020 Möglichkeiten aufgezeigt werden, unter welchen Voraussetzungen CHNs auch heute schon in der Primärversorgung tätig werden können, gibt es nur wenige Modellprojekte bzw. Praxisansätze in denen die neue Versorgungskultur erprobt werden kann. Die Weichen sind also einerseits gestellt, um den künftigen Herausforderungen, der die Gesundheitsversorgung in Deutschland gegenübersteht, etwas entgegenzusetzen. Andererseits scheint es weithin an einigen Stellen Blockaden und Hindernisse zu geben, um eine dringend benötigte Reform schnell umzusetzen. In Anbetracht der zunehmenden Herausforderungen im Deutschen Gesundheitssystem erscheint diese Situation mehr als verwunderlich. Neue zukunftsweisende und international anerkannte Versorgungsmodelle wie CHN sollten mit Kusshand aufgenommen werden. Eigentlich.
Aber nicht alle Akteur*innen im deutschen Gesundheitswesen begrüßen die neusten Entwicklungen. Die Verbände der Ärzt*innenschaft schauen mit großer Skepsis auf die Bestrebungen der Pflege, sich zu professionalisieren und neue Handlungsfelder für sich zu erschließen. Die kassenärztliche Bundesvereinigung erweist sich in Gesprächen als äußerst hartnäckiger und widerspenstiger Verhandlungspartner. Es stellt sich die Frage, was hinter den Blockaden steckt. Wie so häufig scheinen hier ökonomische Interessen eine zentrale Rolle zu spielen. Anstatt die Aufteilung der Versorgung als logischen und notwendigen Schritt zu begreifen, versetzt die Aussicht, etwas vom Kuchen abgeben und die eigene Machtposition teilen zu müssen, viele Mediziner*innen und ihre Lobby in Angst und Schrecken. Fadenscheinige Gründe, wie etwa die unzureichende Qualifizierung werden hervorgebracht, um die Pflege klein zu halten und zu versuchen, die aktuellen Entwicklungen im Keim zu ersticken. Versehen mit einem Status der allwissenden „Halbgötter in Weiß“ sichern Ärzt*innen seit 1955 im Staatsauftrag die vermeintlich lückenlose Versorgung im Gesundheitswesen. Konkurrenz ist ausgeschlossen, könnte ein Erstarken der Pflege doch bedeuten, dass dieses Machtmonopol Kratzer bekommt. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Einbußen in der Versorgung billigend zugunsten von ökonomischen Interessen und Machterhalt in Kauf genommen werden. Teilweise herrscht der Eindruck vor, keine Versorgung sei der Ärzt*innenschaft lieber, als eine Versorgung durch andere Berufsgruppen.
Was tun?
Es braucht dringend ein Umdenken. Weg vom Festkrallen an alten, sanierungsbedürftigen Versorgungsformen, weg vom Gerangel um Kompetenzen. Hin dazu, die Herausforderungen der künftigen Gesundheitsversorgung als gemeinsame Aufgabe zu verstehen. Das Neben- und Miteinander verschiedener Berufsgruppen im Gesundheitswesen sollte nicht nur zähneknirschend in Kauf genommen werden. Versorgung sollte gemeinsam, bedarfsgerecht und aus Patient*innensicht geplant werden und das Potenzial und die Synergieeffekte der Zusammenarbeit vollends ausgeschöpft werden. Nicht nur interprofessionell zwischen Ärzt*innen und Pflege, sondern mit allen an der Versorgung beteiligten Gesundheitsberufen, wie etwa Sozialarbeiter*innen, Therapeut*innen, Gemeinwesenarbeiter*innen etc. Als geeignetes Setting bieten sich hier lokale Gesundheitszentren an, in denen viele Professionen gemeinsam unter einem Dach versorgen. Unter Pflege sind in alle Formen der Pflege zu verstehen. CHNs als Teilbereich von Advanced Practice Nursing sind ein Teil dieser neuen Versorgungsstruktur. Ihnen kommt aufgrund ihrer breit gefächerten akademischen Qualifizierung eine Schlüsselposition innerhalb des komplexen Versorgungsgefüges zu. Selbstverständlich wird es aber auch in Zukunft weiterhin all jene professionell qualifizierten Pflegefachkräfte brauchen, die in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Pflegediensten beschäftigt sind.
Ein gern verwendetes Argument ist, dass bereits bestehende Fachberufe die Rolle der CHNs füllen könnten, wie etwa VERAHs (Versorgungsassistent*in in der Hausarztpraxis), NäPAs (nichtärztliche Praxisassistent*innen) oder Physician Assistants. Dies kann zunächst attraktiv wirken, da oberflächlich betrachtet hier eine MFA oder Pflegekraft in Teilen ähnliche Tätigkeiten wie eine CHN ausübt, es dafür jedoch keinerlei Reformen bedarf. Es handelt sich hierbei aber um einen faulen Kompromiss, der vor allem die Monopolstellung der Ärzt*innenschaft aufrechterhält und der Pflege keinerlei Kompetenz zuspricht bzw. sie hindert, sich als eigenständige Profession an der Gesundheitsversorgung zu beteiligen. Wenn wir über autonom agierende Pflegende sprechen oder gar den Blick in die Zukunft in Richtung Nurse-led Clinics richten, wie sie in vielen anderen Ländern schon seit Jahrzehnten erfolgreich etabliert werden, reicht es nicht, VERAHs oder NäPas irgendwo am Rande der Versorgung oder als reine Assistenz des Arztes abzustellen. Auch reicht es nicht, es vage bei schwammigen, irreführenden Begrifflichkeiten zu belassen, wie den „Kiezschwestern“, die neuerdings in Berlin unterwegs sind, oder den „modernen Formen der Gemeindeschwester“, wie es im aktuellen Hamburger Koalitionsvertrag heißt. Es braucht gut qualifizierte, professionell ausgebildete Pflegende, die in der Lage sind, eigenständig Tätigkeiten zu übernehmen – versorgend, schulend, anleitend, koordinierend und interdisziplinär mit anderen Berufsgruppen und im Stadtteil vernetzt. Und vor allem müssen sie auch als das benannt werden, was sie sind: Community Health Nurses.
Referenzen:
Agnes-Karll-Gesellschaft für Gesundheitsbildung und Pflegeforschung mbH, vertreten durch den Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe - DBfK Bundesverband e. V. (2022): Community Health Nurses für Deutschland. Policy Paper, Alt-Moabit91, 10559 Berlin. Online verfügbar unter https://www.dbfk.de/media/docs/Bundesverband/CHN-Ausschreibung/CHN_PolicyPaper_2022.pdf, zuletzt geprüft am 09.05.2023.
Burgi, M., Igl, G. (2021): Rechtliche Voraussetzungen und Möglichkeiten der Etablierung
von Community Health Nursing (CHN) in Deutschland. 1. Aufl. Baden-Baden: Nomos Verlag.
Deutscher Pflegerat e. V. (Juli 2022): Positionspapier „Community Health Nurse“. Berlin. Online verfügbar unter https://deutscher-pflegerat.de/wp-content/uploads/2022/07/DPR_Positionspapier_Community-Health-Nurse.pdf, zuletzt geprüft am 09.05.2023.
Gunther Lauven, Prof. Dr. med: Heilkundeübertragung - Erfahrung aus dem Innovationsfondsprojkt HandinHand. In: Gesundheits- und Sozialpolitik (G&S) 2023 (2/2023), S. 6–12. Online verfügbar unter https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/1611-5821-2023-2-6/heilkundeuebertragung-erfahrung-aus-dem-innovationsfondsprojekt-handinhand-jahrgang-77-2023-heft-2?page=1, zuletzt geprüft am 09.05.2023.
Iversen, Linda; Wolf-Ostermann, Karin; Petersen-Ewert, Corinna (2022): Welche Aufgaben hat eine Community Health Nurse? In: Prävention und Gesundheitsförderung. DOI: 10.1007/s11553-022-00961-1.
Reuschenbach, Bernd (2021): Neues Berufsbild: Community Health Nurse. In: Heilberufe 73 (3), S. 48–51. DOI: 10.1007/s00058-021-1977-4.
Scheydt, Stefan; Hegedüs, Anna (2023): Dimensionen und konzeptuelle Merkmale des Community
Health Nursing. In: HeilberufeScience 14 (1), S. 9–18. DOI: 10.1007/s16024-022-00386-y.
ZI- Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung in Deutschland (14.07.2022): Statement für die Presse. Dr. Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), äußert sich zum Positionspapier „Community Health Nurse“ des Deutschen Pflegerats vom 13. Juli 2022. Berlin. Daniel Wosnitzka, Tel: 030 – 4005 2449; presse@zi.de. Online verfügbar unter https://www.zi.de/fileadmin/Migration/Statement_CHN_2022-07-14.pdf, zuletzt geprüft am 09.05.2023.